Was ist Trauma?

Das Wort Trauma wird mittlerweile in vielen Kontexten benutzt. In meiner Praxis werde ich oft von Klient*innen gefragt: „Ist das jetzt ein Trauma, oder nicht? Bin ich traumatisiert, oder nicht?“. Auf diese Frage kann man meiner Meinung nach letztlich nur selbst antworten. Anders als im Volksmund oft wahrgenommen, ist ein Trauma nicht an einem Ereignis mess- oder skalierbar. Trauma hat keinen Standard. Trauma ist höchst subjektiv: was für Dich traumatisch ist, kann für mich nur eine Herausforderung sein. Denn ein Trauma liegt nicht im Ereignis, sondern in dem, was in Dir und Deinem Nervensystem als Reaktion eines Ereignisses passiert.

Ein Trauma entsteht, wenn ein Erlebnis unser Nervensystem überwältig und wir es nicht verarbeiten können. Wir haben keine Bewältigungsstrategie – wir fühlen uns hilf- und schutzlos, sind in unserem Selbst- und Weltverständnis erschüttert und können der Situation nicht entfliehen.

IN SITUATIONEN MIT TRAUMAPOTENZIAL, GREIFT UNSER NERVENSYSTEM AUF URALTE ÜBERLEBENSSTRATEGIEN ZURÜCK.

Wenn der Stress ansteigt, kommt es zu einer „sympathischen Aktivierung“ unseres Nervensystems. In dieser Phase der „Erregung“ stehen uns die Reaktionen Unterwerfung, Zuflucht, Kampf/Verteidigung oder Flucht zur Verfügung. Das heißt wir versuchen, die Gefahr durch Unterwerfung abzuwenden, suchen Schutz bei einer uns sicher genug erscheinenden Person, kämpfen gegen die Gefahr oder fliehen. Wenn der Stress in unserem Nervensystem noch höher wird, wechseln wir in den Freeze-Modus. Ein Merkmal des Freeze-Zustandes (der auch eher ein Spektrum ist), ist, dass wir weniger oder gar nichts mehr spüren und eben auch bewegungs- und handlungsunfähig(er).

WENN DER STRESS IM KÖRPER GEBUNDEN BLEIBT ENTSTEHT TRAUMA

Peter Levine, Begründer von Somatic Experiencing®, der Basis meiner Arbeit, hat sich ausführlich mit eben diesen Reaktionen unseres Nervensystems beschäftigt. Zu Beginn seiner Arbeit hat er vor allem Säugetiere untersucht, deren Nervensystem dem unserem sehr ähnlich ist. In der „freien Wildbahn“ gibt es keine, oder kaum, Traumasymptome – obwohl doch das Leben für viele Tiere geprägt ist vom Jagen und gejagt werden. Also von Situationen mit extrem hohem Traumapotenzial. Ihm ist dabei aufgefallen, dass Tiere, die einen Angriff überleben, immer ähnlich reagieren: Sie zittern, sie schütteln sich, entladen den Stress, rennen, erholen sich und leben weiter. Und das hat seinen Grund. Während der Gefahr gerät der Körper in einen extrem großen Stresszustand mit vielen Stresshormonen und extra Energie, die uns beim Überleben helfen soll. Ist die Gefahr vorbei, muss diese Energie wieder aus dem Körper raus. Entweder durch erfolgreiche Abwehrreaktionen (Kampfreaktionen oder erfolgreiche Flucht) oder eben nach der Gefahr. Diese Stressenergie bleibt so lange im Körper, bis sie einen Ausdruck findet und sich entladen kann. Kann sie das nicht, bleibt die Energie und manchmal auch der Schock im Körper gebunden. Ein Abschluss unseres Impulses, also eine vollständige Integration und Verarbeitung der Überwältigung kann nicht stattfinden – an diesem Punkt beginnen wir von Trauma zu sprechen.

ABER: TRAUMA IST NICHT GLEICH TRAUMA.

Es gibt unterschiedliche Arten: Schocktrauma, Entwicklungstrauma, Sekundärtraumatisierung und transgenerationales Trauma. Transgenerationales Trauma und Sekundärtraumatisierung möchte ich hier nur kurz anschneiden. Auf Schock- und Entwicklungstrauma werde ich etwas tiefer eingehen.

TRANSGENERATIONALES TRAUMA

Wenn wir von transgenerationalem Trauma sprechen, meinen wir häufig die epigenetischen Auswirkungen auf unser Nervensystem durch etwas, was unsere Vorfahren erlebt haben. Das bedeutet, dass bestimmte Schalterstellungen von Genen übergeben werden können. Wir haben dann eventuell Symptome, die eher zu der Biographie unserer Großeltern passen würde, als zu unserer. Aber auch wenn wir selber traumatisierte Eltern haben, diese beispielsweise nicht in ihrer vollen Kraft für uns als Kinder da sein können, dann hat das Auswirkung auf unsere eigene Traumageschichte. Wenn beispielsweise ein Elternteil eine Angststörung hat, kann auch Dein Umgang mit Angst davon stark beeinflusst werden. Das Nervensystem eines Kindes lernt vom Nervensystem der Bezugspersonen. Und wenn das Nervensystem Deiner Eltern sehr stark ängstlich, oder sogar panisch, reagiert, dann fürchtest auch Du Dich möglicherweise schneller als andere. Obwohl es eigentlich gar nicht Deine Angst ist, sondern eine übertragene Deiner Bezugspersonen.

SEKUNDÄRTRAUMATISIERUNG

Von Sekundärtraumatisierung sprechen wir, wenn Menschen Traumasymptome entwickeln, nachdem sie zum Beispiel etwas Schlimmes mit angesehen haben. So etwas wie einen Unfall oder die Folgen der Hochwasserkatastrophe, ohne selber in akuter Gefahr gewesen zu sein. Auch Menschen, die viel mit Traumatisierungen arbeiten, können, da sie sich im energetischen Feld von Trauma bewegen, Symptome von Klient*innen „übernehmen“. Auch da sprechen wir von Sekundärtraumatisierung. Viele Helfende in Ersthelfer*innenberufen sind davon betroffen. Sowohl transgenerationales, als auch zu Sekundärtraumatisierungen können die gleichen Symptome auslösen wie Schock- und Entwicklungstrauma.

SCHOCKTRAUMA

Ein Schocktrauma zeichnet sich durch die Gebundenheit an ein Ereignis aus. Das kann ein Unfall, eine Unwetterkatastrophe wie das Hochwasser, oder der Verlust eines geliebten Menschen sein. Es gibt also eine Zeit, einen Beginn und ein Ende des Ereignisses.

ENTWICKLUNGSTRAUMA

Entwicklungstrauma hingegen entsteht nicht durch ein Ereignis, sondern durch wiederkehrende oder langanhaltende Überwältigung des Nervensystems. Wie der Name schon verrät, sind Entwicklungstraumata dabei auf die frühen Lebensjahre zurückzuführen. Wenn Menschen in ihrer Kindheit oder Jugend wiederkehrend oder langanhaltend Missstände, Übergriffe, Vernachlässigung oder Abwesenheit durch Bezugspersonen erleben, werden wichtige Entwicklungsprozesse gestört, oder sogar gehindert. Oft entstehen dadurch Bindungsstörungen und auch wichtige neurologische Verschaltungen können möglicherweise nicht richtig stattfinden. Entwicklungstraumata haben dabei einen großen Einfluss auf die Resilienz eines Menschen und den Umgang mit Schocktrauma, da oft Bewältigungsmechanismen fehlen.

DIE FÄDEN UNSERES NERVENSYSTEMS UND WIE TRAUMA DARAUF WIRKT

Wenn du dir dein Nervensystem wie einen Webteppich vorstellst, an dem ein Holzschiffchen die Fäden stetig weiter miteinander verwebt, dann ist Schocktrauma ein gerissener Faden im sonst relativ intakten Teppich. Der Rahmen deines Webteppichs bleibt stabil, Form und Farbe können ebenfalls weiterhin erkennbar bleiben – aber es ist ein kleines, oder auch größeres, Loch in deinem Teppich. Im Gegensatz dazu beeinflusst Entwicklungstrauma die Grundstruktur deines Teppichs. Es zieht sich durch – möglicherweise fehlen lange Fäden und die Struktur deines Teppichs ist weniger stabil. Fehlen Fäden an dem Platz, an den das Schocktrauma fällt, kann der Schaden sehr gravierend sein. Fällt das Schocktrauma auf einen fest verwebten Teppich, dann hat das sehr wahrscheinlich weniger große Auswirkungen. Schocktrauma und Entwicklungstrauma gehen also gerne Hand in Hand und haben eines gemeinsam: Sie sitzen im Körper. In deinem Nervensystem. Und genau über diesen Weg lassen sie sich auch wieder lösen. Für jedes Trauma lassen sich Wege des Umgangs finden – davon bin ich zutiefst überzeugt.